„Es gibt Menschen, die haben ein fotografisches Gedächtnis;

 

für Claudia Scheer van Erp ist Fotografie eine Arbeit am Gedächtnis. Das ist nur scheinbar ein Pleonasmus, gilt Fotografie doch als Medium der Erinnerung, des Bewahrens und Festhaltens schlechthin. Doch diese umstandslose Gleichsetzung ist falsch. Ein Foto selbst ist kein Erinnerungsstück; es kann Erinnerung ermöglichen. Es kann zum Auslöser werden, im Gedächtnis Eingelagertes in bewusste Erinnerung zu heben. Wie man sich nicht an etwas erinnert, sondern daran, wie man es erlebte, hält ein Foto nicht die Situation fest, die es zeigt, sondern deren Erleben durch seinen Urheber im Moment seiner Anfertigung. Ein Foto dokumentiert nicht, was es sichtbar macht, sondern dessen Wahrnehmung. Wenn Fotografie etwas festhält, dann die Wahrnehmung eines Augenblicks, in seiner Erfassung durch die dazu eingestellte Technik der Kamera, die das Foto »macht«. Es zeigt einen Moment der Wahrnehmung einer Situation, nicht deren Wirklichkeit. Der die Elemente des Bildes, das sie dabei ist, herzustellen, versammelnde Blick der Fotografin fügt die wahrgenommenen Elemente der Situation, in der sie sich befindet, zum Ausdruck ihrer Wahrnehmung. Als Bild-Kunst ist die als objektiv geltende Fotografie so subjektiv wie jede sonst. Ein Foto zeigt nicht, was auf ihm ansichtig wird, so, wie es ist oder war, sondern so, wie es sich dem Blick seines Urhebers im Moment seiner Anfertigung darbot. Auf dieser Differenz beruht die Kunstfähigkeit des technischen Mediums Fotografie.

Diese Fuge zwischen Dokumentation und Erlebnis erkundet Claudia Scheer van Erp mit ihrer fotografischen Gedächtniskunst, seitdem sie 1994 ihr Medium wählte. Nach dem Abschluss ihres Kommunikationsdesign-Studiums an der Universität Wuppertal 2002, und einer anschließenden kurzen Lehrtätigkeit dort, intensivierte sie ihre schon früh begonnene Reisetätigkeit. Ihre Welt- und Menschen Neugier führte sie nach Asien, in den Nahen Osten und nach Südamerika, wo sie in Brasilien für einige Jahre ihren Lebensmittelpunkt fand.

Seit ihrer Rückkehr 2012 widmet sie sich parallel zu ihrer kulturjournalistischen und dokumentarischen Arbeit als Mode- und Film-Fotografin künstlerisch der Idee eines visuellen Archivs einer Zeitgenossenschaft der Vergänglichkeit. 2014 veröffentlichte sie den Bildband Inside King Ping, eine Dokumentation der Dreharbeiten zum gleichnamigen Film.

Ihr zweiter Themen-Beitrag zum KARUSSELL, nach der Portrait-Serie über den Bildhauer Udo Meyer in Heft 7 (2017), ist eine serielle Collage, in der sie Bilder aus dreißig Jahren so aufeinander bezieht, dass visuelle Kommentare Unserer Kriege im Frieden entstehen. Wie es mitten im Krieg, wie sie ihn als Reporterin im Irak in den 90erJahren erlebte, friedliches Leben gibt, wenn Kinder neben Minenfeldern spielen, ein Puzzle legen, während im Nebenhaus eine Bombe explodiert, so gibt es kriegerisches Handeln mitten im Frieden, wird die blumenselige Vorgartenidylle neben der Brandruine eines Anschlages gepflegt. Während in den Ruinen der Bombenangriffe ein auf das Elementarste verringertes Leben mühsam fortgesetzt wird, lässt die zivilisatorische Veränderungswut am anderen Ende der Welt Ruinen des Wohlstands entstehen. Überleben mit primitivsten Mitteln, die die Zerstörungen übrigließen, dort, mit hoch entwickelter Medizin hier. Selbst in Instrumenten der Schönheitspflege lauert das mörderische Potential der Messer und Scheren. Es gibt nichts Harmloses. Die Fugen der Gleichzeitigkeit verschiedener Zeiten der Weltregionen erweisen sich als Zentrifugen der Vergänglichkeit. Einen Moment erleben heißt, sein Vergehen spüren. Ein Foto dokumentiert den Augenblick des Übergangs; die Erstarrung dessen, was eben noch war, und nun schon nicht mehr ist, im Bild seiner momentanen Anwesenheit in einem spürenden Bewusstsein. So wird Fotografie als Bildkunst zum Widerstand gegen die Verhängnisse des Vergehens, und die Auslösung der Kamera im Moment der erreichten Bildkomposition zum Kommentar der erlebten Situation zu einer Geste des Humanen: das Unvermeidliche nicht ohne Widerspruch hinzunehmen.“

-Dr. Andreas Steffens